Sind die Grenzen zwischen Marketing und Redaktion fließend?
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Die Medienbranche befindet sich in einem fundamentalen Wandel: Veränderte Nutzungsgewohnheiten durch die Pandemie, hoher Druck auf den Werbemarkt durch die Inflation und eine starke Fragmentierung der Angebote.
Massiver Stellenabbau, Digital-Offensiven und die Einstellung namhafter Titel mit jahrzehntelanger Tradition sind das Resultat.
Eine etablierte Medienmarke hat das Potenzial, weiterhin als Leuchtturm zu strahlen. Die digitale Transformation stellt den Journalismus aber vor Herausforderungen.
Im Journalisten-Barometer erhebt das Marktforschungsinstitut „Marketagent“ seit 2004 ein Stimmungsbild des Journalismus.
In Zusammenarbeit mit der Kommunikationsagentur „Leisure Communications“ wurden nun über 400 Journalisten in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu aktuellen Themen befragt.
„Der ökonomische Druck auf die Redaktionen nimmt zu, womit es zu einer stärkeren Vermischung zwischen Marketing und Journalismus kommt. Gedruckte Produkte stehen mit wenigen Ausnahmen vor dem Bedeutungsverlust. Obwohl sich die Arbeitsbedingungen von Journalisten in den letzten zwei Dekaden kontinuierlich verschlechtert haben und die Zufriedenheit mit der Bezahlung sinkt, würden sich 80 Prozent wieder für den Job entscheiden“, fasst „Marketagent“ Geschäftsführer Thomas Schwabl zusammen.
Die Grenzen zwischen Marketing und Redaktion sind fließend
71 Prozent stimmen der Aussage zu, dass in den vergangenen Jahren Marketing und PR (aus ökonomischen Gründen) immer häufiger ohne entsprechende Kennzeichnung ein Advertorial buchen oder Anzeigen sowie Werbung journalistisch verarbeitet werden.
Nur elf Prozent der Journalisten widersprechen dieser Aussage. Knapp die Hälfte hat diese Erfahrung bereits in der eigenen Redaktion gesammelt.
In Österreich wird die Vermischung von Marketing und Redaktion von 57 Prozent der Journalisten erlebt. In Deutschland haben immerhin 46 Prozent und in der Schweiz 43 Prozent ähnliche Erfahrungen gesammelt.
„Viele Medien halten dem wirtschaftlichen Druck derzeit kaum Stand und öffnen der Einflussnahme durch Politik, Wirtschaft und Interessenvertretungen durch ‚Medien-Kooperationen‘ die Hintertür in die Redaktion“ analysiert Wolfgang Lamprecht, Partner bei „Leisure Communications“.
Image des Journalismus im Sinkflug
Das öffentliche Image des eigenen Berufsstands wird von mehr als der Hälfte der Journalisten (58 Prozent) als weniger gut bis schlecht eingestuft.
20 Prozent meinen, dass ihr eigener Job ein gutes oder sehr gutes Image hätte – besonders positiv fällt der Blick auf die eigene Zunft in Deutschland aus, wo sich ein Viertel eine wohlwollende öffentliche Wahrnehmung attestiert.
Attestierten sich selbst im Jahr 2004 noch 31,6 Prozent der Journalisten ein gutes oder sehr gutes Image, sind es 2023 nur noch 19,8 Prozent.
Fake News und hohe Reichweiten
Der rasanten Transformation von Medienmarken in den digitalen Raum stehen die befragten Journalisten zweigespalten gegenüber.
92 Prozent sind der Überzeugung, dass die zunehmende Digitalisierung der Verbreitung von Fake News Tür und Tor öffnet. 86 Prozent erkennen darin die Möglichkeit, mehr Menschen und ein breiteres Publikum zu erreichen.
Genau darin birgt sich für 84 Prozent jedoch auch eine Gefahr: Um den Zugang zu einer breiten Zielgruppe zu erhalten, braucht es weder journalistische Qualifikation noch eine etablierte Medienmarke.
Acht von zehn Journalisten verspüren durch die digitale Transformation einen steigenden Konkurrenzdruck innerhalb der Branche und drei Viertel der befragten Journalisten meinen, dass Geschwindigkeit bedeutsamer als Qualität wird.
73 Prozent nehmen in digitalen Angeboten neue und interessante Arbeitsfelder wahr, während zwei Drittel darin eine Bereicherung der Medienlandschaft sehen. 60 Prozent fällt die eigene Recherche durch die digitale Content-Flut schwerer.
Für knapp 70 Prozent hat der Arbeitsstress durch die digitale Transformation zugenommen. Besonders hoch ist die empfundene Stresszunahme in der jüngeren Altersgruppe der 20- bis 49-Jährigen.
Das eigene Medienunternehmen halten 37 Prozent gut oder sehr gut für die digitale Zukunft gewappnet, während 28 Prozent ihre Firma für eher oder sehr schlecht auf die digitale Transformation vorbereitet sehen.
Knapp zwei Drittel sehen die eigene Wertevorstellung im Einklang mit ihrem Arbeitgeber. Sechs von zehn haben ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Medienunternehmen und sind stolz darauf.
Die Kontrollmechanismen zum Fakten-Check im eigenen Unternehmen beurteilt die Hälfte als gut oder sehr gut, während 20 Prozent Aufholbedarf sehen.
In Sachen Fakten-Check sind deutsche Journalisten deutlich selbstkritischer: In der Bundesrepublik sieht ein Viertel ihr Unternehmen nicht gut aufgestellt, in Österreich sind es nur 13 Prozent.
„Künstliche Intelligenz erfordert noch mehr menschliche Intelligenz in den Redaktionen. Die Anforderung an die Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten steigt schneller als die technische Entwicklung“, erklärt Lamprecht.
Abgesang auf Print
Drei Viertel meinen, dass der Stellenwert klassischer und etablierter Medienmarken im täglichen Informationsverhalten der Menschen in letzter Zeit gesunken ist. Dem stehen lediglich 18 Prozent gegenüber, die von einem gestiegenen Stellenwert sprechen.
Künftig an Bedeutung verlieren werden vor allem gedruckte Tageszeitungen (83 Prozent) und Magazine (67 Prozent) sowie Wochenendzeitungen (57 Prozent).
Etwas weniger dramatisch werden die Perspektiven für TV (42 Prozent) und Radio (26 Prozent) eingeschätzt. An Bedeutung gewinnen werden vor allem Podcasts und soziale Medien (jeweils 70 Prozent), Online-Video (69 Prozent) und ePaper-Ausgaben der Tageszeitungen (60 Prozent).
Ebenfalls mehr Bedeutung wird künftig Content Creators (59 Prozent), ePaper-Magazinen (51 Prozent), Publisher-Portalen (44 Prozent), Blogs (40 Prozent) und Newslettern (38 Prozent) zugemessen.
„Die etablierte Medienmarke bleibt für die Menschen bedeutsam. Sie wird künftig anders konsumiert – die Tageszeitung etwa als ePaper, das Magazin als Podcast oder die ‚Tagesschau‘ als Online-Video. Die kuratierten Inhalte der vertrauenswürdigen Medienmarke sind die demokratiepolitisch wichtige Gegenthese zu den Echokammern und Algorithmen der Tech-Giganten“, urteilt Alexander Khaelss-Khaelssberg, Managing Partner bei „Leisure Communications.“
Er ergänzt: „Investitionen in fundierten, qualitativen Journalismus sichern die Relevanz der Medienmarke auf allen derzeitigen und künftigen Kanälen.“
Klassische Berichte schätzt rund eine Zweidrittelmehrheit der Journalisten auch heute noch als vertrauenswürdiger, seröser, qualitativer und besser recherchiert ein.
Über die Vorteile von Digital-Artikeln sind sich neun von zehn einig: Sie sind aktueller und liefern die schnellere Information. 72 Prozent halten sie auch für leichter konsumierbar.
Medien unterhalten
Nach der wesentlichen Funktion von Medien befragt, sind sich zwei Drittel sicher, dass Unterhaltung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Die Hälfte meint, dass Medien Partizipation ermöglichen.
Vier von zehn der Befragten denken, dass sie zur Meinungsbildung beitragen und Information vermitteln sowie Kritik und Kontrolle ermöglichen.
„Die Menschen suchen in Medien neben Information vor allem Zerstreuung, Ablenkung und Unterhaltung. Nach den letzten Jahren sind sie der negativen Schlagzeilen überdrüssig und sehnen sich nach positiven Inhalten“, meint Thomas Schwabl.
Debatte über Medienförderung
Drei Viertel sprechen sich für den Erhalt klassischer Medien durch gezielte (staatliche) Medienförderung aus.
Besonders hoch ist die Zustimmung mit 84 Prozent in Österreich, wo im Erhebungszeitraum gerade die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch eine Haushaltsabgabe sowie Inseratenskandale der Bundesregierung die öffentliche Diskussion dominierten.
In der Schweiz meinen nur 64 Prozent der befragten Journalisten, dass Traditionelles durch die öffentliche Hand bewahrt werden solle, in Deutschland sind es 73 Prozent.
Multimedialer Newsroom oder Trennung
Bereits zwei Drittel der Befragten sind mit der Arbeit in multimedialen Redaktionen und Newsrooms vertraut.
41 Prozent kennen die Trennung zwischen Print- und Digitalredaktion noch aus ihrer beruflichen Vergangenheit oder sind aus einem anderen Kontext heraus damit vertraut.
Immerhin ein Drittel arbeitet noch in getrennten Redaktionen mit häufig unterschiedlichen Vertragsverhältnissen für Print- und Digitaljournalisten.
In Österreich gehört für 37 Prozent die Trennung zwischen Print- und Digitalredaktion zum Alltag. In der Schweiz erleben nur mehr 24 Prozent diese Trennung in ihren Medienunternehmen.
Die Trennung von Print- und Digitalredaktion wird überwiegend negativ empfunden. Rund die Hälfte meint, dass sie zu einem Konkurrenzdenken innerhalb der eigenen Firma führt.
45 Prozent halten diese Arbeitsweise nicht mehr für zeitgemäß. 42 Prozent erkennen auch positive Aspekte wie unterschiedliche Themenzugänge oder die Fokussierung auf einzelne Bereiche.
Ein Drittel sieht die eigene Arbeit durch die Trennung erschwert – in der Schweiz sind es sogar 46 Prozent, wo auch die meisten Journalisten keine getrennten Redaktionen mehr kennen.
Digitale Pressekonferenzen bleiben
Knapp die Hälfte der Befragten halten digitale Pressekonferenzen und Events für ein zukunftsfähiges Modell. Nur 19 Prozent glauben nicht, dass sie ein geeignetes Format für den Wissensgewinn und Informationsaustausch sind.
39 Prozent der Journalisten haben durch die digitale Transformation mehr direkten Kontakt mit ihren Lesern, Sehern, Hörern und Usern.
Trotz aller Interaktionsmöglichkeiten berichten hingegen 24 Prozent von einem leicht oder stark gesunkenen Kontakt mit ihren Rezipienten.
Schlechte Arbeitsbedingungen
Zur Entwicklung der Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren ist die Meinung der Journalisten einhellig: Für 82 Prozent haben sie sich verschlechtert.
In der Schweiz stimmen 91 Prozent der Journalisten dieser Aussage zu, in Österreich 82 Prozent und in Deutschland acht von zehn der Befragten. Trotzdem würden sich 80 Prozent erneut für den Beruf entscheiden und 60 Prozent möchten ihn bis zu ihrem Rentenantritt ausüben.
Die Aussage findet sich auch auf der Zeitachse des Journalisten-Barometers wieder. 2004 sprachen noch zwei Drittel von einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der Wert der Negativbeurteilungen ist in den letzten 19 Jahren kontinuierlich um 15,8 Prozentpunkte gestiegen.
Wenig glücklich zeigt man sich in den Redaktionen mit der Bezahlung. Nur mehr 40 Prozent sind mit ihrem Salär zufrieden. Seit 2004 hat dieser Wert um 11,9 Prozentpunkte abgenommen.
Knapp die Hälfte arbeitet in der Woche 41 bis 60 Stunden und immerhin ein Viertel 31 bis 40 Stunden. Etwa ein Drittel würde die Arbeitszeit gerne reduzieren.
Besonders negative Entwicklungen gab es in der Geschichte des Journalisten-Barometers nicht nur im gesellschaftlichen Ansehen von Journalisten. 72 Prozent meinen, dass die Glaubwürdigkeit journalistischer Arbeit abgenommen hat.
Mehr als die Hälfte sieht auch die Relevanz der Medien als vierte Gewalt im Staat schwinden. Für mehr als 60 Prozent hat sich die Vielfalt an Recherche- und Informationsquellen zum Besseren gewandt.
Auch Art und Umfang der Tätigkeiten im Beruf sowie die Freiheit bei der Auswahl von Themen und Inhalten werden als positive Entwicklungen wahrgenommen.
„Die multiplen Krisen der letzten Jahre und deren journalistischer Aufarbeitung hinterlassen ihre Spuren. Der Journalismus hadert mit sich selbst und sieht sich mit sinkender Wertschätzung konfrontiert“, so Thomas Schwabl.
Noch mehr Arbeit
Mehr als zwei Drittel gehen beim Blick in die Zukunft davon aus, dass Art und Umfang der beruflichen Tätigkeit weiter zunehmen werden.
Über die Hälfte der Journalisten wird sich in den nächsten drei Jahren mit einer noch größeren Vielzahl an Recherche- und Informationsquellen konfrontiert sehen.
Dafür erwarten sich 38 Prozent wachsende Freiheit bei der Auswahl von Themen und Inhalten und auch mehr Glaubwürdigkeit journalistischer Arbeit.
Der Ausblick auf die kommenden drei Jahre hat sich im direkten Vergleich mit den Daten aus 2019 kaum verändert.
Positive Aspekte
Drei Viertel der Journalisten sind mit der Art ihrer Tätigkeit zufrieden und 72 Prozent begrüßen die inhaltliche Vielfalt in ihrem Ressort.
69 Prozent äußern sich positiv über das Arbeitsklima und die Zusammenarbeit mit Kollegen. 61 Prozent schätzen ihre Unabhängigkeit.
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© Foto: Joppe Spaa, Unsplash